03. November 2019
Dank einer neuen Technologie kann man Tabletten mit winzigen Sendern versehen, die Signale aus dem Körper übertragen – und Patienten so bei der Einnahme überwachen. Sind digitale Pillen die Zukunft der Medizin?
Von Katja Ridderbusch
Als Brenda Jans Darling vor anderthalb Jahren begann, Medikamente für ihre zweite Chemotherapie zu schlucken, lebte sie in ständiger Angst. Davor, dass sie den Darmkrebs, der sie 2016 im Alter von 43 Jahren befallen hatte und der nach einer Operation und einer ersten Behandlungsrunde zurückgekommen war, nicht überleben würde. Ihre Kinder, heute 12 und 15 Jahre alt, müssten dann ohne sie groß werden.
Und sie fürchtete sich auch davor, dass sie vergessen könnte, ihre Pillen zu nehmen. Ihr Leben hing nun auch davon ab, dass das nicht passierte. „Ich kann mir nicht leisten, nachlässig zu sein“, sagt sie.
Sie war erleichtert, als ihr Arzt ihr nach sechs Monaten anbot, sich künftig von ihren eigenen Tabletten rund um die Uhr überwachen zu lassen. Seitdem schluckt sie ihre Chemotherapie in Form von digitalen Pillen: Jede ist mit einem winzigen Sender versehen, der Signale aus ihrem Körper überträgt.
Die Daten landen auf einer Cloud im Internet, auf die ihre Ärzte zugreifen können – und so kontrollieren, ob sich Brenda Jans Darling an die Einnahmeregeln hält, die sie aufgestellt haben.
In den USA nehmen auch Patienten mit Diabetes, Bluthochdruck, schlechten Cholesterinwerten oder Hepatitis C nun digitale Pillen – bislang in Pilotprojekten. In einer Klinik in Dallas, Texas, werden Kinder, die eine Herz- oder Nierentransplantation überstanden haben, mit digitalen Medikamenten überwacht.
Zu oft vergessen Kranke ihre Medikamente
In Studien wird geprüft, ob sich die Sender auch mit HIV- und Tuberkulose-Medikamenten kombinieren lassen. In der Europäischen Union hat die Technologie eine Kennzeichnung als Medizinprodukt erhalten. In China ist sie bereits zugelassen.
Die Technologie weckt große Hoffnungen, denn sie könnte ein ebenso menschliches wie lästiges Problem der Medizin endlich lösen: die mangelnde Therapietreue vieler Patienten. Sie halten sich nicht an Einnahmeregeln oder vergessen schlicht, ihre Medikamente zu nehmen, und gefährden so den Erfolg der ganzen Behandlung. Ihren Ärzten verschweigen sie die Fehler, was Peinlichkeiten erspart, aber auch ein Eingreifen verhindert.
Mit digitalen Pillen sind Überwachung und Kontrolle jederzeit möglich. Aber die Technologie weckt auch Ängste. In Deutschland sind Patienten wie Ärzte skeptisch, wenn es um die digitale Speicherung und Weiterleitung von Gesundheitsdaten geht.
Groß ist die Angst, dass sensible Informationen in falsche Hände geraten könnten. Patienten bei der Tabletteneinnahme unter Dauerüberwachung zu stellen, ist da eine Horrorvorstellung. Denkbar wären eines Tages womöglich gar Sanktionen für diejenigen Patienten, die sich nicht an alle Regeln halten.
Er könne sich die Zukunft der Medizin nicht ohne digitale Medikamente vorstellen, sagt Scooter Plowman – ein Mann, der die Entwicklung vorantreibt und von ihr profitiert. Plowman ist medizinischer Direktor von Proteus Digital Health, dem Start-up aus dem Silicon Valley, das die Technologie entwickelt hat, die in den USA in zahlreichen Pilotprojekten eingesetzt wird.
Bei dem rasanten Tempo der Digitalisierung sei es nur logisch, „dass auch die Medikamente der Zukunft Informationen darüber liefern, wie sie eingenommen werden und wie sie wirken“, findet Plowman.
Wie weit verbreitet und wie folgenreich die falsche Einnahme von Medikamenten tatsächlich ist, hat ein Studie der University of Pittsburgh im letzten Jahr gezeigt. In den USA nehmen demnach 30 bis 50 Prozent der Erwachsenen ihre Medikamente nicht so ein, wie es der Arzt verordnet hat.
In der Folge verschlechtert sich oft ihr Gesundheitszustand, Krankenhausaufenthalte nehmen zu. „Das führt zu rund 100 Milliarden Dollar an vermeidbaren Kosten pro Jahr“, heißt es in der Studie.
Dass die Einnahme digitaler Medikamente zu besseren Behandlungsergebnissen führen kann, zeigte eine Studie über Blutdrucksenker. Demnach erreichten 98 Prozent der Patienten, die ihre Medikamente mit einem digitalen Sender einnahmen, nach drei Monaten ihre Zielwerte.
In der Vergleichsgruppe, deren Probanden die Medikamente in der traditionellen Variante schluckten, konnten nur 52 Prozent ihren Blutdruck wie gewünscht senken.
Kaum größer als Sandkörner
Die Krebspatientin Brenda Jans Darling hatte ihre erste Chemotherapie noch intravenös in der Klinik bekommen, Ärzte überwachten die Dosierung. „Bei einer Chemotherapie ist der Spielraum zwischen zu viel und zu wenig sehr klein“, sagt Edward Greeno, Chefarzt am Masonic Cancer Center der University of Minnesotain Minneapolis und Jans Darlings behandelnder Arzt.
Bei oralen Chemotherapien seien die Patienten auf sich allein gestellt, behandelten sich selbst zu Hause. „Das ist eine Vorstellung, die Patienten, Ärzte und Pflegeteams gleichermaßen nervös macht.“ Digitale Pillen gäben allen Beteiligten mehr Sicherheit, sagt Greeno.
Die Sender in den Tabletten sind kaum größer als Sandkörner. Sie bestehen aus winzigen Mengen von Kupfer, Magnesium und Silikon – Mineralien, die sich auch in Lebensmitteln finden – und werden aktiv, sobald sie mit der Magensäure in Kontakt kommen.
Auf dem Bauch von Brenda Jans Darling klebt ein Pflaster mit Sensor, der die Signale empfängt und weitersendet. Der Sensor misst auch ihren Herzschlag und Bewegungsmuster und leitet auch diese Daten an das Portal, auf das neben den Ärzten auch Pflegedienste und Familienmitglieder zugreifen können.
Anders als häufig angenommen sei es nicht so, dass Krebspatienten ihr Medikamentenregime besonders präzise einhielten, sagt Edward Greeno. Er habe Patienten erlebt, die mehr Pillen eingenommen hätten als verschrieben, „weil die Nebenwirkungen nicht so stark waren und sie deshalb dachten, die Medikamente wirkten nicht“. Andere fühlten sich so elend, dass sie den Überblick verloren.
Oft erfuhr er erst Wochen später, beim nächsten Termin, von diesen Fehlern, kostbare Zeit für die Therapie ging verloren. „Die digitalen Medikamente ermöglichen uns, sofort einzugreifen, wenn die Daten über die Einnahme bei uns einlaufen“, sagt er.
Brenda Jans Darling schreckte in den ersten Monaten ihrer oralen Chemotherapie oft nachts auf. Hatte sie alle Tabletten genommen? Vier am Morgen, vier am Abend? Sie arbeitet trotz ihrer Krankheit als Mathematiklehrerin an einer Middle School und kümmert sich um ihre Kinder.
Kurz nach der Krebsdiagnose hat sie eine Scheidung durchgestanden. Ihr Leben sei hektisch, sagt sie. Die Nebenwirkungen der Medikamente strengen sie an. „Das Gehirn wabert in einem zähen Nebel.“
Nun kann sie jederzeit prüfen, ob sie im Therapieplan liegt. Der Sensor auf ihrem Bauch sendet die Daten zuerst an ihr Smartphone. Angst davor, dass ihre Daten in falsche Hände gelangen könnten, hat sie nicht. Schließlich gebe es da nichts, „was mir peinlich wäre“, sagt sie. Den Krebs könne sie ohnehin nicht verstecken.
Ihr Arzt Edward Greeno sagt, kein einziger Patient im Pilotprojekt habe Bedenken gegen die Datenweitergabe geäußert.
Es braucht mündige und aufgeklärte Patienten
Womöglich wäre das anders, wenn Greeno psychische Erkrankungen behandeln würde. Im Jahr 2017 ließ die US-Pharmaaufsicht FDA das erste digitale Medikament überhaupt zu. Es handelte sich ausgerechnet um das Neuroleptikum Abilify MyCite, für dessen Herstellung Proteus mit dem japanischen Pharmakonzern Otsuka zusammenarbeitete.
Das Medikament, das in seiner herkömmlichen Form seit 17 Jahren auf dem Markt ist, wird vor allem bei Patienten mit Schizophrenie und schweren bipolaren Störungen eingesetzt. Dies sei „die denkbar ungünstigste Patientengruppe, um digitale Medikamente auf den Markt zu bringen,“ sagt Paul Appelbaum, Professor für Psychiatrie und Medizinethik an der New Yorker Columbia University.
Vor allem Menschen mit Schizophrenie leiden häufig unter paranoiden Episoden. Und die Gabe von Medikamenten, die das Verhalten von Patienten überwachten, „spielen direkt in das System von Wahnvorstellungen, in dem viele Psychose-Patienten gefangen sind. Und das ist äußerst kontraproduktiv.“
Dabei lehne er die Technologie nicht grundsätzlich ab, betont Appelbaum. Sie verlange jedoch aufgeklärte und mündige Patienten – was bei psychisch Kranken nicht immer gegeben ist.
Appelbaum sieht eine weitere Gefahr, die nicht nur Patienten mit psychischen Erkrankungen betrifft. Er fürchtet, dass Krankenkassen die Überwachung der Medikamenteneinnahme zur Bedingung dafür machen könnten, dass sie die Behandlung zahlen.
„Ein solcher erzwungener und unfreiwilliger Einsatz digitaler Medikamente liegt durchaus im Bereich des Vorstellbaren“, sagt der Medizinethiker. „Und das wäre sehr problematisch.“
Scooter Plowman von Proteus Digital Health spricht lieber über seine eigene Zukunftsvision: Schon in fünf, spätestens aber in zehn Jahren könnte jedes Medikament auf dem Markt digitalisiert sein, sagt er. Der Onkologe Edward Greeno hofft sogar darauf. Immer mehr Patienten könnten dann zu Hause behandelt werden, statt ins Krankenhaus zu müssen. Kostengünstig – und komplett überwacht.
Copyright: WeltN24/Katja Ridderbusch – Foto: Proteus Digital Health