08. Oktober 2019
Manche Menschen kommen mit nur vier oder fünf Stunden Nachtruhe aus. Trotzdem sind sie munter, leistungsfähig und gesund. Wie kann das sein? Kurzschläfer sind zum begehrten Studienobjekt von Schlafforschern geworden.
Von Katja Ridderbusch
Brad Johnson kann sich an keine einzige Nacht in seinem Leben erinnern, in der er länger als sechs Stunden geschlafen hat. Oft schläft er sogar weniger. Meist gehe er gegen zwölf oder halb eins ins Bett, sagt er, obwohl er oft noch nicht mal richtig müde sei. Gegen vier oder fünf wacht er wieder auf. Er fühlt sich so erfrischt wie andere Menschen wohl nur nach dem Ausschlafen am Wochenende, „ich wache auf und bin bereit für den Tag“, erzählt er am Telefon.
Johnson ist 63 Jahre alt und kerngesund, wenn man von den Knieproblemen absieht, die ihn inzwischen davon abhalten, weiter Marathon zu laufen. Er lebt im Bundesstaat Utah im Westen der USA, wie viele Menschen dort hat er eine große Familie.
Einen Teil seiner Verwandten könnte er problemlos um sechs Uhr morgens versammeln, nach einer kurzen Nacht, Wecker nicht nötig. Er selbst habe noch nie einen benutzt. Vier seiner sieben Geschwister, seine Tochter, eine Nichte und ein Neffe haben ähnliche Schlafmuster wie er. Auch sein Vater schlief wenig. Er wurde 86 Jahre alt und blieb bis zum Ende bei klarem Verstand.
Überhaupt leidet keiner der Kurzschläfer der Familie unter den gesundheitlichen Folgen, die dauerhafter Schlafmangel normalerweise mit sich bringt. Das hat die Familie zu einer Sensation unter Schlafforschern gemacht – und zu einem begehrten Studienobjekt. Körper und Geist der Johnsons erholen sich nachts in Rekordtempo.
Die Kurzschläfer sind zudem sogar überdurchschnittlich fit und aktiv. Die Neurowissenschaftlerin Ying-Hui Fu von der University of California, San Francisco, die seit einiger Zeit an den Johnsons forscht, nennt Brad und seine munteren Geschwister: „Menschen 2.0“.
Seit mehr als zehn Jahren geht Fu gemeinsam mit ihrem Kollegen und Ehemann Louis Ptáček der Frage nach, wie Gene und Schlaf zusammenhängen. „Schlaf ist eine der fundamentalen Notwendigkeiten in unserem Leben“, sagt die Forscherin.
Menschen, die auf Dauer zu wenig schlafen, leiden häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und einem geschwächten Immunsystem, langfristig steigt ihr Risiko für Krebs und Demenz. Die meisten Erwachsenen benötigen sieben bis neun Stunden pro Nacht, um diesen Gefahren vorzubeugen. Aber viele bekommen nicht genug Schlaf.
„Leider wissen wir nur wenig darüber, wie Schlaf wirklich funktioniert,“ sagt Ying-Hui Fu. Die Forschung unter Alltagsbedingungen sei schwierig, weil Menschen ihr Schlafverhalten ständig manipulieren, mit Fernsehlärm, Licht aus dem Handy, mit Kaffee oder Beruhigungstabletten.
Fu hat sich deshalb auf sogenannte Extremschläfer spezialisiert. Sie untersucht Menschen, die schon um acht Uhr abends müde sind und um vier Uhr morgens putzmunter. Andere Probanden von Fu sind extreme Nachteulen.
Als besonders ergiebig hat sich die Arbeit mit extremen Kurzschläfern wie den Johnsons aus Utah herausgestellt. In der Familie ist eine seltene Genmutation verbreitet, fand Fu heraus, die den Johnsons so viele wache Stunden beschert.
Sein Bruder Paul schlafe nach ähnlichem Muster wie er, sagt Brad Johnson. Seine Schwestern Janice und Kathy kommen mit wenig Schlaf aus. Sein Bruder Rand war ebenfalls Kurzschläfer, aber seit er einen Unfall mit dem Motorrad hatte und viele Medikamente braucht, ist sein Rhythmus gestört.
Rand wurde von den Studien ausgeschlossen. Zur Familie gehören auch drei Brüder, die so viel Schlaf wie die meisten Menschen benötigen. Sie sind nicht Träger der Mutation.
Immer mehr Forscher gehen davon aus, dass neben Umwelteinflüssen genetische Faktoren eine Schlüsselrolle für das Schlafverhalten spielen. „Der Einfluss der Gene liegt wahrscheinlich zwischen 35 und 70 Prozent, möglicherweise sogar höher“, sagt David Rye, Neurologe und Schlafforscher an der Emory University in Atlanta. Rye war einer der führenden Autoren einer bahnbrechenden Studie aus dem Jahr 2007 über die genetischen Komponenten von Schlafstörungen.
Die Studie identifizierte erstmals eine Gen-Variante, die mit der Entstehung des Restless-Legs-Syndroms verbunden ist, einer verbreiteten Schlafstörung, die sich durch Missempfindungen in den Beinen äußert. „Wir haben mit fünf oder sechs Genen angefangen und haben später bis zu 20 Gene identifiziert, die eine Rolle spielen“, sagt Rye.
Das Schlafverhalten von Menschen genetisch zu kartografieren, die Gene und deren Informationen, Signalwege und Wirkungsmechanismen zu identifizieren, zu verstehen und zu erklären – das sei „ein hochkomplexes, mehrdimensionales Puzzle,“ sagt Rye. Ein Puzzle, dessen Fertigstellung Jahrzehnte dauern dürfte.
Kurzschläfer sind das Produkt einer Genmutation
2009 fanden Wissenschaftler dabei ein erstes Kurzschläfer-Gen, DEC2. Eine Mutation dieses Gens kann dazu führen, dass die Produktion des Hormons Orexin, das Einfluss auf das Essverhalten und den Schlafrhythmus hat, im Gehirn angeregt wird – ein Prozess, der zu einem kürzeren Schlafverhalten beiträgt.
Ying-Hui Fu und ihr Team waren überzeugt, dass es noch andere genetische Ursachen geben müsse. Sie untersuchten 150 Kurzschläfer aus 50 Familien und fanden eine Mutation auf einem zweiten Gen, ADRB1. Dessen Information wird vor allem auf der Rückseite des Pons, einer Region des Hirnstamms, die für die Schlafregulierung zuständig ist, umgesetzt.
Diesen Mechanismus haben die Forscher vor Kurzem in einem Artikel im Fachmagazin „Neuron“ beschrieben. Die Mutation ist nur in einem von 25.000 Menschen zu finden. Fu fand sie bei den Johnsons.
Eine Verbindung zwischen beiden Kurzschläfer-Genen besteht offenbar nicht; auch haben die Wissenschaftler bisher keine Probanden gefunden, die beide Mutationen haben. Mittlerweile hat Fus Team ein drittes Kurzschläfer-Gen identifiziert. Die Studie soll im Laufe dieses Monats veröffentlicht werden.
Das Erstaunlichste ist, wie leistungsfähig die Kurzschläfer mit ADRB1-Mutation sind. Brad Johnson war Finanzvorstand für die Outdoor-Ketten REI und Lands’ End. Statt danach in den Ruhestand zu gehen, wurde er Lehrbeauftragter für Wirtschaftswissenschaften an der Utah State University. Er lebt in Logan, 130 Kilometer nördlich von Salt Lake City, gemeinsam mit seiner Frau engagiert er sich stark in seiner Kirchengemeinde.
Ausgelastet ist er mit Job, Familie und Kirchenarbeit allerdings noch nicht. Er wandert, klettert, fährt Rennrad und macht an sechs Tagen in der Woche Krafttraining. Sein Blutdruck und die Cholesterinwerte sind ideal, sein Ruhepuls liegt knapp über 40, wie bei einem Spitzensportler. Seine Geschwister sind ähnlich gesund. Weil ihm auch nach dem Sport noch Zeit bleibt, liest er und schreibt Tagebuch.
Um den Zusammenhang zwischen der Mutation des ADRB1-Gens und natürlichem kurzen Schlaf besser zu verstehen, führten Fu und ihr Team eine Reihe von Experimenten an Mäusen durch. Sie fügten der DNA der Tiere die Mutation hinzu.
Anschließend stimulierten sie die Neuronen im Pons – der Region, in der das ADRB1-Gen seine Wirkung zeigt. Die Mäuse schliefen in der Folge etwa eine Stunde weniger pro Nacht.
Einige Zusammenhänge kann sie sich selbst noch nicht erklären, sagt Fu. Zum Beispiel, warum viele ihrer Kurzschläfer-Probanden ähnliche Persönlichkeitsmerkmale aufweisen: Sie sind ehrgeizig, optimistisch, stressresistent und haben eine hohe Schmerz-Toleranz.
Brad Johnson sagt, er habe bei seinen Marathonläufen oder seinen Aufstiegen auf Matterhorn und Kilimandscharo „schon irgendwann Schmerz“ gespürt. Aber es habe ihm nicht so viel ausgemacht wie seinen Sportkumpeln – allesamt Normalschläfer.
Schlafforscherin Fu hofft, dass ihre Erkenntnisse über die Johnsons und andere Kurzschläfer eines Tages Alzheimer- und anderen Demenzpatienten helfen können, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen. In ihren Studien konnte sie beobachten, dass Menschen mit Kurzschläfer-Mutation in der Regel sehr alt werden – ohne kognitive Einschränkungen, so wie der Vater Johnsons.
Risiken oder Nachteile der Mutation hat Fu bei ihren 150 Probanden noch nicht gefunden. Es klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Ihr Proband Brad Johnson sagt, er persönlich sei einfach dankbar. Für drei zusätzliche Stunden am Tag. Seit seiner Volljährigkeit hat er so knapp 50.000 Stunden Lebenszeit gewonnen: Mehr als fünfeinhalb Jahre, die er sich vollgepackt hat.
Copyright: WeltN24/Katja Ridderbusch