28. April 2019
Vor zehn Jahren wurde der Hefepilz Candida auris zum ersten Mal bei einer Patientin in Japan entdeckt. Seitdem hat er sich über den gesamten Globus ausgebreitet – auf mysteriösen Wegen.
Von Katja Ridderbusch
Der Keim überlebte den Patienten um Tage und Wochen. Er harrte an den Wänden, an den Decken und auf dem Fußboden des Krankenzimmers aus, an den Türen, den Vorhängen und dem Bettgestell, auf dem Nachttisch, den Infusionsstangen und der Tastatur der Computer, die Ärzte und Pfleger mit in den Raum gebracht hatten.
Das Krankenhaus wurde den Keim erst los, als es Teile der Decken und des Fußbodens herausreißen ließ und das Zimmer mehrfach mit hochkonzentrierter Chlorbleiche reinigte.
Was wie eine Szene aus einem Seuchenthriller klingt, trug sich vor ziemlich genau einem Jahr im Mount Sinai Hospital in Brooklyn, New York zu. Dort wurde ein älterer Mann in kritischem Allgemeinzustand eingeliefert. Bluttests kamen zu dem Ergebnis, dass der Mann sich mit einem Erreger infiziert hatte, der seit einigen Jahren in den USA und rund um den Globus für Schrecken sorgt: der Hefepilz Candida auris. Der Mann starb nach drei Monaten im Krankenhaus.
In den USA war der Erreger so gut wie unbekannt
Ende März gab die US-GesundheitsbehördeCenter for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta erschreckende Zahlen bekannt. In den USA sind nun 617 Fälle von Infektionen mit C. auris gemeldet. So nennen Wissenschaftler den Pilz auch. Die meisten Fälle traten in den Bundesstaaten New York, New Jersey und Illinois auf. 1056 Menschen sind von dem Pilz kolonisiert, das heißt: Der Erreger konnte bei ihnen nachgewiesen werden, doch die Infektion ist nicht ausgebrochen.
Die Fallzahl mag auf den ersten Blick winzig erscheinen – doch Experten versetzt sie in Unruhe. Noch vor drei Jahren war der hochgefährliche Erreger in den USA so gut wie unbekannt. Bis August 2016 zählte die CDC gerade sieben Infektionen im ganzen Land. Dann stiegen die Zahlen rasant. August 2017: 153 Fälle, Juni 2018: 369.
Erst vor zehn Jahren wurde Candida auris überhaupt erstmals nachgewiesen, in Japan. Inzwischen haben mehr als 30 Länder Infektionen mit C. auris gemeldet. Vor allem in Indien, Pakistan und Südafrika breiten sich die Infektionen rasch aus. In Europa kam es zu Ausbrüchen in England und Spanien. In Deutschland gab es bislang sieben Fälle.
Als die CDC im Juni 2016 erstmals Alarm schlug, war Maryn McKenna überrascht. „Es war schon sehr ungewöhnlich, dass die Behörde vor einem Erreger warnte, noch bevor er in den USA wirklich angekommen war“, sagt die Journalistin und Buchautorin, die sich mit Antibiotikaresistenzen beschäftigt.
Bis zu 60 Prozent der Patienten überleben die Infektion nicht
Bei der CDC hatte man die Gefahr, die von dem Keim ausging, früh erkannt. Candida auris übertrage sich „so schnell und effizient wie kaum ein Organismus, der uns bekannt ist“, sagt Tom Chiller, Infektionsmediziner und führender Pilzexperte bei der US-Behörde. Besonders in Intensivstationen von Krankenhäusern und in Pflegeheimen nistet sich der Keim gerne ein. Betroffen sind Ältere und Neugeborene, Menschen mit geschwächtem Immunsystem und Patienten, die intravenös versorgt werden oder denen ein Katheter gelegt wurde.
Der Pilz gerät in die Blutbahn, er greift Organe wie Herz, Lunge und das Gehirn an, es kommt zu hohem Fieber und Schüttelfrost und im schlimmsten Fall zu einer Sepsis. Die Sterblichkeit liegt hoch – bis zu 60 Prozent der Patienten überleben die Infektion trotz aller Behandlungsversuche nicht.
Das größte Problem dabei: C. auris ist gegen die meisten Pilzmittel resistent. Derzeit gibt es drei Klassen von sogenannten Antimykotika. Nach Angaben der CDC sind mehr als 90 Prozent der C.-auris-Infektionen gegen ein Medikament resistent, bei 30 Prozent sind zwei oder mehr Mittel wirkungslos. In Indien sind acht Prozent der Infektionen panresistent – in diesen Fällen hilft kein einziges Mittel mehr.
Ein solches Verhalten sei ungewöhnlich für einen Pilz, sagt Oliver Cornely, Professor für Epidemiologie an der Universität Köln und einer der führenden Pilzexperten in Europa. „In der Regel kommt es bei Bakterien schneller zu Mutationen als bei Pilzen“ – und damit auch zu einer schnelleren Ausbildung von Resistenzen. Pilze seien komplexere Organismen als Bakterien, sagt Cornely weiter. „Sie haben einen Zellkern und sind genetisch stabiler.“
Aus all diesen Gründen klingt die Geschichte – die rasante Ausbreitung des resistenten Killerpilzes – erschreckend vertraut. Seit Jahren warnen Gesundheitsbehörden vor dem Anbruch einer postantibiotischen Ära, in der der Mensch den Wettlauf gegen die Mikroben verliert, in der multiresistente Bakterien die Macht übernehmen und ein kleiner Kratzer zum Tode führen kann. Weltweit sterben jedes Jahr 700.000 Menschen an antibiotikaresistenten Infektionen, und bis 2050 könnte die Zahl auf 10 Millionen hochschnellen, heißt es in einer britischen Studie.
Zwar liegen die Fallzahlen bei C.-auris-Infektionen bislang noch deutlich niedriger als bei Infektionen mit multiresistenten Bakterien, aber viele Forscher erleben ein düsteres Déjà-vu: „Candida auris ist ein Erreger, wie wir ihn noch nie hatten“, sagt Tom Chiller von der CDC. „Ein Pilz, der sich wie ein Bakterium benimmt.“
Neben der Ausbildung von Resistenzen sei es ungewöhnlich, wie schnell sich C. auris von Mensch zu Mensch übertrage, sagt Chiller weiter – ebenfalls nicht die Norm bei Pilzen, sondern eher von Bakterien bekannt. Hinzu kommt: Anders als die meisten Pilze, die ein warmes und feuchtes Umfeld benötigen, ist C. auris extrem genügsam. Er kann längere Zeit ohne Nahrung auf kalten, trockenen und unbelebten Oberflächen überdauern.
Auch deshalb ist es so schwer, ihn loszuwerden. „Candida auris hält in mehreren Dimensionen einfach mehr aus“, sagt Cornely. Der Pilz lässt sich aus verseuchten Räumen und von befallenen Oberflächen nur mit einer sehr hohen Dosis UV-Strahlung und einem Bleichebad vertreiben, wenn überhaupt.
Wo ist die Verbindung zwischen den Fällen?
Ein weiteres Problem ist, dass C. auris schwer zu diagnostizieren ist. Standardlaborverfahren führten häufig in die Irre, weil das biochemische Muster des Erregers in vielen Labordatenbanken noch nicht hinterlegt ist, erklärt Oliver Cornely. Zuverlässiger sind moderne molekulare Verfahren, die die Erreger individuell untersuchen.
Im Jahr 2009 entdeckten Ärzte den Pilz erstmals – an einem Abstrich aus dem Gehörgang einer Patientin in Japan. Dieser erste Fall gab dem Erreger seinen Namen: Candida ist eine Gattungsbezeichnung für Pilze, Auris heißt Ohr im Lateinischen. Kurz darauf wurden Infektionen mit C. auris aus Südkorea, Indien, Pakistan, Kuwait und Südafrika gemeldet, schließlich auch aus Europa und den USA. Die Epidemiologin Anuradha Chowdhary von der Universität in Neu-Delhibeschrieb die Ausbrüche erstmals 2013 in einem wissenschaftlichen Artikel.
Candida auris existiert wahrscheinlich seit Jahrtausenden. Doch die Frage, warum er Menschen plötzlich schwer krank macht, ist Forschern weiterhin ein Rätsel. C. auris sei so mysteriös „wie das Wesen aus der schwarzen Lagune“, findet Tom Chiller.
Der Pilz trat nahezu zeitgleich in verschiedenen Regionen der Welt erstmals in Erscheinung, sagt die Journalistin Maryn McKenna. Ein weiteres Rätsel. Als die Blutproben genetisch sequenziert worden seien, habe sich gezeigt: „Jeder Strang des Erregers war anders aufgebaut, je nach Herkunft.“
Das heißt: Es gab nicht den einen Ort, an dem der Ausbruch begann, den einen Erreger, der mutierte, jenen legendären ersten Fall, der um die Welt reiste, sagt McKenna. „Also müssen wir uns fragen: Was ist passiert, was hat diesen multiresistenten Pilz mit solcher Kraft an die Oberfläche getrieben?“ Wo ist die Verbindung zwischen den Fällen, was ist der gemeinsame Auslöser?
Bislang gibt es nur Vermutungen, aber keine belastbaren Daten. Einige Forscher halten es für möglich, dass der übermäßige Einsatz von Pilzvernichtungsmitteln in der Landwirtschaft die Entwicklung von Resistenzen bei C. auris befördert hat – ebenso, wie der exzessive Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung die Ausbildung von Antibiotikaresistenzen in der Humanmedizin beschleunigt. Noch habe niemand die Frage beantworten können, sagt McKenna, deren jüngstes Buch „Big Chicken“ sich mit dem Zusammenhang zwischen Antibiotikaresistenzen und dem Essverhalten westlicher Gesellschaften beschäftigt. „Aber die Frage ist es wert, gestellt zu werden.“
Tatsächlich gibt es einen möglichen Vergleichsfall: Der Schimmelpilz Aspergillus fumigatus – in der Natur zuständig für das Zersetzen von toten Blättern und Pflanzenabfällen – greift bei immungeschwächten Menschen die Atemorgane an. Er hat ebenfalls Resistenzen entwickelt und endet oft tödlich.
Aspergillus tritt besonders konzentriert in den Niederlanden auf, wo mehr als 30 Prozent der Infektionen resistent sind. Außerdem gibt es immer wieder begrenzte Ausbrüche in Lateinamerika. Das sind allesamt Länder, in denen der Anbau von Zierpflanzen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Hier werden Blumenzwiebeln vor dem Einpflanzen in ein Bad aus Azol getaucht. Azol ist ein Antimykotikum, das sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Medizin genutzt wird. Ein Zusammenhang zwischen Azol-Einsatz und Aspergillus fumigatus gilt unter Forschern mittlerweile als unbestritten.
In deutschen Krankenhäusern bisher nur sieben Fälle
Bei allen Warnungen vor Candida auris will Tom Chiller keine Panik schüren. Anders als bei antibiotikaresistenten Infektionen stelle C. auris nur für eine begrenzte Personengruppe eine ernste Gefahr dar. „Ich habe keinerlei Sorgen, dass es in der breiten und gesunden Bevölkerung zu einem Ausbruch kommt.“
Auch in Deutschland hätten erprobte Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen dafür gesorgt, dass es bisher bei den sieben Fällen geblieben ist, sagt der Kölner Pilzexperte Oliver Cornely. Die Infektionen wurden in sieben verschiedenen Krankenhäusern gemeldet – in sieben verschiedenen Städten. Keiner der Fälle war panresistent. „Jedes Krankenhaus in Deutschland dürfte mittlerweile einen genauen Plan für den Fall haben, dass Candida auris auftritt.“
Schließlich: Zwar reagiert die Pharmaforschung insgesamt nur langsam auf den steigenden Bedarf nach zusätzlichen Antimykotika, ebenso wie nach dringend notwendigen neuen Antibiotikaklassen. Doch immerhin seien mehrere Pilzmittel in der Entwicklung, sagt Cornely, der als Leiter des Zentrums für Klinische Studien an der Universität Köln eng mit Pharmaherstellern kooperiert. „Es gibt derzeit fünf Substanzen mit einem neuen Wirkungsmechanismus, die sich in der klinischen Erprobung befinden.“ Die Mittel könnten, wenn sie sich in den Studien bewähren, in den nächsten Jahren auf den Markt kommen.
Entwarnung dürfe es dennoch nicht geben, sagt Oliver Cornely. Er glaube, dass die Geschichte der multi- und panresistenten Pilze noch lange nicht auserzählt sei. Auch Maryn McKenna, die Chronistin der Killerkeime, geht nicht davon aus, dass Candida auris und Aspergillus fumigatus die einzigen Pilze bleiben werden, die den Menschen befallen und gegen die es immer weniger Waffen gibt. Solche Pilze seien einmal aufgetaucht, dann ein zweites Mal – warum also nicht noch viel häufiger?
Copyright: WeltN24 / Katja Ridderbusch