6. Mai 2018
Genforscher David Reich untersucht Unterschiede zwischen Volksgruppen. Er sagt, eine „reine“ menschliche Population existiere nicht. Genetische Unterschiede zwischen Populationen gebe es aber schon.
Von Katja Ridderbusch
Warum erkranken Afroamerikaner häufiger an Prostatakrebs als Weiße? Und warum ist Multiple Sklerose unter Weißen stärker verbreitet als unter Schwarzen? Die Antwort liegt im Erbgut. Der Zusammenhang zwischen genetischer Veranlagung für bestimmte Erkrankungen und der Zugehörigkeit zu der ein oder anderen Population ist unter Wissenschaftlern wenig umstritten.
Dennoch brach ein Entrüstungssturm los, als David Reich, Genetiker an der Harvard University, in der „New York Times“ zu einer neuen Debatte über den Begriff „Rasse“ – er setzt ihn in Anführungsstrichen – im Licht der genetischen Forschung aufrief. Dabei wollte Reich nur sein neues Buch bewerben – „Who We Are and How We Got Here“, Wer wir sind und wie wir hierherkamen –, in dem der Begriff „Rasse“ übrigens kaum vorkommt.
Für sein Buch hat Reich das Erbgut von Zehntausende Jahre alten Knochen untersucht und erstaunliche Entdeckungen gemacht.
WELT AM SONNTAG: Herr Reich, Sie haben einen Essay in der „New York Times“ geschrieben, der für viel Aufregung gesorgt hat. Darin sagen Sie, dass die genetische Forschung unser Verständnis des Begriffs „Rasse“ verändert hat.
David Reich: Zunächst einmal: „Rasse“ ist keine hilfreiche biologische Kategorie. Der Begriff ist historisch aufgeladen und wissenschaftlich unsauber. Er entspricht nicht biologisch kohärenten Gruppen von Menschen. Wenn wir zum Beispiel in den USA von „Latinos“ sprechen, reden wir von Leuten, die von ihrem genetischen Erbe her mal Europäer sind, mal Afrikaner, mal amerikanische Ureinwohner.
„Rasse“ ist also ein soziales Konstrukt, das sich ständig wandelt, keine biologische oder genetische Kategorie. Allerdings wehre ich mich gegen diese weitverbreitete Orthodoxie. Dagegen, dass viele Wissenschaftler aus Angst, in die politisch inkorrekte Ecke gestellt zu werden, sich hinter einer Schweigemauer verschanzt haben.
Es stimmt, dass die genetischen Unterschiede zwischen Populationen von Menschen insgesamt gering sind. Aber es gibt sie – zwischen Individuen und auch zwischen Populationen. Mithilfe der Genetik lernen wir täglich mehr darüber, wie diese Unterschiede zustande gekommen sind und was sie über uns verraten. Dabei geht es nicht nur um Unterschiede in Geschlecht und Hautfarbe, sondern zum Beispiel auch bei Krankheitsdispositionen.
Und manchmal korrelieren diese Unterschiede eben mit den Kategorien, die heute oft – und wie gesagt: unglücklicherweise – unter dem Begriff „Rasse“ beschrieben werden. Aber wenn man all die neuen Erkenntnisse und Zusammenhänge einfach totschweigt, fördert man Rassismus, statt ihn zu bekämpfen.
WELT AM SONNTAG: Inwiefern?
Reich: In meinem Land, den USA, misstrauen viele Menschen der Wissenschaft, und dieses Misstrauen wird von der Politik noch geschürt. Wenn Forscher dann auch noch aus Angst vor Kritik eine Position verteidigen, die wissenschaftlich nicht zu halten ist – dass es biologisch keine Unterschiede zwischen den Gruppen gibt, die häufig als „Rasse“ bezeichnet werden –, dann schaffen wir ein Vakuum. Und das wird dann mit Vorurteilen, Stereotypen und Pseudowissenschaft gefüllt. Und wozu das führen kann, hat uns ja leider die Geschichte gezeigt, vor allem, aber nicht nur in Deutschland.
WELT AM SONNTAG: Genau, zum Beispiel die Eugenik, die im 19. Jahrhunderts entstand, und die sogenannte Rassenlehre der Nationalsozialisten. Sie wussten also, dass Sie ein Minenfeld betreten würden, als Sie den Begriff „Rasse“ in die Diskussion brachten. Wollten Sie provozieren?
Reich: Ich denke schon, dass es wichtig ist, eine Debatte darüber zu führen. Nicht weil der Begriff „Rasse“ zutreffend wäre, aber er wird nun einmal in der Öffentlichkeit benutzt. Schauen Sie sich nur die Statistiken des amerikanischen Zensusbüros an. Als Wissenschaftler ist es unsere Aufgabe, aufzuklären und Orientierung zu geben.
WELT AM SONNTAG: Da sind einige Ihrer Kollegen offenbar anderer Meinung. 67 Forscher aus aller Welt, von Genderwissenschaftlern über Bioethiker bis zu Juristen, haben Sie in einem offenen Brief über den korrekten Einsatz der Genetik belehrt. Hat Sie das geärgert?
Reich: Nein, im Gegenteil. Ich begrüße die Debatte. Das sind wohlmeinende Leute. Und wir verfolgen im Übrigen das gleiche Ziel: gesellschaftliche Ungleichheit zu bekämpfen. Aber leider schaden einige dieser Wissenschaftler mit ihrer Argumentation ihren guten Absichten mehr, als dass sie ihnen nützen.
WELT AM SONNTAG: Rechte Blogs haben Ihnen zu dem „New York Times“-Artikel gratuliert, weil er angeblich die Existenz von Rassen mithilfe der Genetik bestätige. Wie reagieren Sie darauf?
Reich: Für Rassisten habe ich schlechte Nachrichten. Denn das wichtigste Ergebnis meiner Recherchen über historische DNA ist dies: Wir Menschen – und zwar alle, ohne Ausnahme – sind das Ergebnis großer und tiefgreifender Wellen von Durchmischung über Tausende und Zehntausende von Jahren.
Die weißen Europäer der Gegenwart zum Beispiel sind das Ergebnis einer Mischung aus vier verschiedenen Gruppen. So etwas wie die Reinheit einer menschlichen Population gibt es nicht. Die Wahrheit ist, dass die Genomforschung rassistische Argumente in der Luft zerreißt.
WELT AM SONNTAG: Das ist das Ergebnis der vielen Genomanalysen, die Sie und andere Forscher mittlerweile durchgeführt haben. Das Erbgut von heute lebenden Menschen wurde dabei genauso ausführlich untersucht wie das von ausgestorbenen Individuen. Wie viele Genome haben Sie bis heute sequenziert?
Reich: Bislang etwa 4200, aber die Zahl steigt mit jedem Monat.
WELT AM SONNTAG: Was ist das Ziel dieser Entschlüsselungen?
Reich: Wir wollen eine Landkarte weltweiter genetischer Variationen erstellen, einen genetischen Atlas der Menschheit sozusagen. Und zwar nicht nur auf der Basis der heutigen Menschen. Wir wollen auch verstehen, in welcher Beziehung unsere Vorfahren zueinander standen und welche genetischen Verbindungen sie mit Populationen haben, die ausgestorben sind. Indem wir die Ebene der Zeit hinzufügen, wird die zweidimensionale Karte der Menschheit zu einer dreidimensionalen.
WELT AM SONNTAG: Sie haben ja zunächst Soziologie studiert, später Medizin. Wie kamen Sie zur Genetik?
Reich: Ich habe mich immer schon für die Vergangenheit der Menschen und der Menschheit interessiert, dafür, wie Einzelne mit der Welt um sie herum verbunden sind. In diesem Sinne fand ich Genetik faszinierend, als Instrument, um diese Verbindungen wissenschaftlich aufzuschlüsseln. Vor 20 Jahren, als ich studiert habe, war dieses Instrumente noch ziemlich primitiv. Also habe ich zunächst über genetische Risikofaktoren für Krankheiten geforscht. Seit Mitte der 2000er-Jahre, seit das menschliche Genom vollständig sequenziert wurde, ist allerdings klar: Es wird möglich sein, Daten über die gesamte genetische Vielfalt der Menschen zu bekommen, der modernen Menschen und unserer Vorfahren.
WELT AM SONNTAG: Haben Sie bei dieser genetischen Kartografie der Menschheit Überraschungen erlebt?
Reich: Einer der Schlüsselmomente war für mich die Entdeckung einer Menschenart, von der wir bislang nicht wussten, dass sie überhaupt existiert hatte. Das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig war dabei federführend. Deren Forscher haben vom Stück eines 50.000 Jahre alten Fingerknochens aus Sibirien ein gesamtes Genom sequenziert. Wir haben dann gemeinsam die Daten analysiert, und es wurde klar, dass dieses Individuum weder den Neandertalern noch der Gattung des Homo sapiens angehörte und auch zu keiner Population in den archäologischen Archiven passte.
WELT AM SONNTAG: Das war der erste Beleg für die Denisovaner, die zeitgleich mit Neandertalern und modernen Menschen lebten.
Reich: Genau. Und solche Überraschungen sind das Großartige an der Genetik. Die meisten wissenschaftlichen Felder sind heute so spezialisiert, so zersplittert, dass es für Forscher schwer ist, etwas durchschlagend Neues zu finden, so wie die Entdecker im 19. Jahrhundert. Aber in der Genetik ist das noch so. In diesem Feld beginnen wir gerade erst, an der Oberfläche zu kratzen, und jedes neu sequenzierte Genom, jede neue Technologie öffnet Fenster in eine unbekannte Welt.
WELT AM SONNTAG: Sie arbeiten eng mit Archäologen und Anthropologen zusammen. Gibt es auch Forscher, die Ihre Arbeit als pietätlos empfinden?
Reich: Schon, aber das ist eher selten. Bestimmte Kulturen wie die alten Ägypter zum Beispiel hätten es sicher nicht gewollt, dass man ihre Gräber öffnet und ihre Überreste untersucht und damit vielleicht auch entweiht oder verletzt. Das ist dann immer eine Abwägungsfrage zwischen historischer Sensibilität und wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn. Wir sind ja noch in der frühen Phase der Zusammenarbeit.
Archäologen, Anthropologen und Genetiker haben unterschiedliche Ausbildungen und kommen aus unterschiedlichen akademischen Kulturen.
Wir Genetiker sind Barbaren auf dem Feld der Archäologie und Anthropologie. Aber es ist immer gefährlich, Barbaren zu ignorieren, weil sie häufig Instrumente besitzen, die sehr wirkungsvoll sind. Deshalb ist es besser, die Barbaren zu integrieren.
WELT AM SONNTAG: Heute ist es ja vergleichsweise einfach, an Erbmaterial zu kommen. Die Menschen sind geradezu verrückt danach, mehr über ihre Vorfahren und über ihre Gene zu erfahren. Unternehmen wie 23andMe bieten dafür – umstrittene – Gentests an. Nutzen Sie deren Daten?
Reich: Wir arbeiten bei einigen Projekten mit 23andMe zusammen. Und ich hoffe, dass wir unsere Kooperation noch ausweiten. Ich würde sehr gerne die historische DNA, das Erbgut unserer Vorfahren, mit den riesigen und unglaublich vielfältigen genetischen Datenbanken der heute lebenden Menschen zusammenbringen, wie sie 23andMe oder auch der Stammbaumdienst „Ancestry.com“ angelegt haben So ließen sich interessante Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit nachzeichnen – nicht nur über die Vorfahren des Einzelnen, sondern über Wanderbewegungen, Populationsgrößen und den Fluss der Gene.
© WeltN24 / Katja Ridderbusch