12. Februar 2017
Genmanipulation bei Insekten kann ihr Sozialverhalten ändern. Forscher erhoffen sich von dieser Entdeckung neue Erkenntnisse über psychische Erkrankungen.
Von Katja Ridderbusch
In einer Petrischale krabbeln 16 Ameisen. Sie laufen aufeinander zu, klettern übereinander, verkeilen sich zu einem Nesthaufen. Nur zwei von ihnen scheint das Gewühl nicht zu interessieren; sie wandern allein an den Rändern des Kunststoffgefäßes umher. Ameisen als Einzelgänger – ein ungewöhnliches, widernatürliches Verhalten für eine Spezies, die so sozial ist, dass Forscher ihre Gemeinschaft sogar als Superorganismus bezeichnen. Während ihre synchron marschierenden Schwestern weiter am selbst organisierten Staatswesen arbeiten, interessieren sie sich nicht fürs Gemeinwesen. Ihr Verhalten ist geradezu asozial.
Das liegt an ihrem Erbgut. Der deutsche Evolutionsbiologe Daniel Kronauer und sein Team an der Rockefeller University in New York haben die Gene dieser Tiere manipuliert. Die Änderungen waren winzig, aber trotzdem haben sie ihr Verhalten massiv verändert.
Seit fünf Jahren forschen Kronauer und seine14 wissenschaftlichen Mitarbeiter an der genetischen Manipulation von Ameisen. Sie wollen herausfinden, wie stark das Sozialverhalten der Tiere durch genetische und neurobiologische Aspekte beeinflusst ist.
Diese Grundlagenforschung könnte, so die Hoffnung der Biologen, irgendwann einmal dazu führen, dass psychische Erkrankungen des Menschen besser verstanden und damit auch behandelt werden können. Die Forschung kann aber auch dabei helfen, biochemische Abläufe in Zellen zu verstehen, zum Beispiel das Verhalten von Krebszellen.
Kronauer forscht vor allem deshalb mit Ameisen, weil deren komplettes Verhalten – in natürlichem Zustand – von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst wird. „Sie reagieren extrem sensibel auf soziale Inputs“, sagt er.
Kronauer, 40 Jahre alt, groß, jungen- hafte Erscheinung, ruhige Stimme, hat in Heidelberg, Würzburg und an der Duke University in North Carolina studiert. Er promovierte in Kopenhagen über tropische Wanderameisen, forschte in Lausanne und an der Harvard-Universität in Boston.
Ameisen, sagt er, faszinierten ihn seit seiner Kindheit: „Ich habe in meinem Kinderzimmer, in den Windelkartons meiner kleinen Schwester, Ameisenkolonien gezüchtet.“ Auch an anderen Insekten versuchte er sich, zum Beispiel an madagassischen Küchenschaben. Doch als die handtellergroßen Krabbeltiere zu Freigängern in der heimischen Waschküche wurden, musste er die Zucht einstellen – „auf Geheiß meiner Mutter“.
In der freien Natur sind die Insekten allerdings wesentlich anspruchsvoller als im Windelkarton. Die meisten Ameisenarten leben in riesigen Kolonien, die oft aus mehreren Tausend Individuen bestehen. Auch ist die Generationszeit lang; es kann ein bis zwei Jahre dauern, bis die Königin eines Ameisenstaates neue Königinnen produziert.
Deshalb haben sich Kronauer und seine Kollegen für ihre Versuche eine Ameisenart ausgesucht, die leichter zu handhaben ist: Bei Cerapachys biroi gibt es nur Arbeiterinnen – keine Königinnen. Der Alltag der kleinen braunen Insekten folgt einem strengen und synchronisierten Rhythmus: Die Hälfte der Zeit legen sie Eier, die andere Hälfte besorgen sie Futter für die Larven und verteidigen das Nest. Alle Tiere sind weiblich, sie vermehren sich asexuell, indem ihre Nachkommen aus unbefruchteten Eiern entstehen. Die Ameisen im Staat der Cerapachys biroi sind also Klone, in ihrer molekularen Struktur identisch – eine genetisch einheitliche, klassenlose Gesellschaft.
„Das macht diese Ameisenart zu idealen Modellorganismen – und uns Forschern das Leben sehr viel einfacher“, sagt Kronauer. Wenn die Wissenschaftler also einmal eine genmodizifierte Ameise geschaffen haben, können sie diese Linie weiter vermehren und damit eine Stammkultur aufbauen. „Dann mischen wir Insekten mit und ohne Mutation. Und beobachten, was passiert.“ Wie sich das Verhalten einzelner Tiere ändert; wie sich die individuelle Verhaltensänderung auf die soziale Interaktion zwischen den Insekten auswirkt. Und wie schließlich die Änderung der sozialen Interaktion das gesamte System der Selbstorganisation beeinflusst.
Kronauers Team hat bislang nur mit kleinen Kolonien gearbeitet, die jeweils Platz in einer Petrischale finden. 110 Kolonien zu je zwei bis 16 Ameisen, knapp tausend Tiere insgesamt. Per Hand kleben die Forscher jedem einzelnen Insekt einen Farbtupfer auf den Rücken. Die Tiere sehen dann aus wie blaue, rote, pinke und grüne Liebesperlen. Dank der Farbe kann jede Ameise getrackt werden. Ein Computerprogramm überwacht sie rund um die Uhr und über mehrere Wochen.
Als die Forscher das Erbgut der Cerapachys biroi sequenzierten, stellten sie fest, dass ein bestimmtes Geruchsrezeptor-Gen viel häufiger war als bei anderen Ameisen. Die Insekten kommunizieren über chemische Reize – und offenbar ist diese Art der Wahrnehmung für Cerapachy biroi noch wichtiger. Die Forscher entfernten das entsprechende Gen. Das Ergebnis war verblüffend: Die derart manipulierten Ameisen wurden zu Sozialmuffeln. Sie gingen ihre eigenen Wege, nahmen keinen Kontakt zu anderen Ameisen mehr auf.
Damit erklärt sich auch ein scheinbar grausames Verhalten der Tiere in der Natur. Manchmal brechen Individuen aus dem synchronisierten Lebensrhythmus aus und machen ihr eigenes Ding. Sie legen Eier, anstatt für die Brut des Sozialstaates zu versorgen oder gegen Feinde zu verteidigen. Ein solches Verhalten wird von den anderen, genetisch konformen Ameisen nicht gedulde. Sie zerren die veränderten Tiere aus dem Nest und töten sie mit Bissen und Stichen. Offenbar verraten sich mutierte Nonkonformisten durch ihren Geruch.
„Insektenkolonien sind die Quintessenz sozialer Systeme“, sagt Gene Robinson, Leiter der Abteilung Genbiologie an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Kronauer und seine Kollegen hätten mit ihren Versuchsreihen gezeigt, „wie sie arbeiten und auch, wie individuelle Komponenten in einem komplexen biologischen System interagieren.“
Die Ameisenstudie zeigt, wie einzelne Gene das Verhalten grundlegend ändern können. In der Forschung ist es ein ständig diskutiertes Thema, welchen Einfluss die Erbanlagen und welchen die Umwelteinflüsse habe. Dies wurde auch schon an anderen Labortieren wie Mäusen getestet. Deren Erbgut wurde so verändert, dass in ihrem Gehirn keine Phosphodiesterase-4B produziert wird und die Tiere deshalb plötzlich weniger Angst haben. Normalerweise er- greifen sie die Flucht, wenn sie Katzenurin riechen. Die genveränderten Mäuse ließ der Geruch jedoch kalt. Offenbar drängt das Fehlen des Enzyms negative Erinnerungen zurück. Forscher hoffen, dass sich diese Erkenntnis auch für den Menschen umsetzen lässt – beispielsweise bei der Behandlung von Angsterkrankungen wie der posttraumatischen Belastungsstörung oder bei Demenz.
Auch Kronauer ist überzeugt, dass die Erkenntnisse seiner Ameisenstudie nicht nur für Insekten gelten, sondern sich auch auf andere Systeme anwenden lassen, in denen einzelne Elemente in einem komplexen System interagieren – „auf Neuronen im Gehirn etwa, Gene im Genom, Zellen in einem Organismus“. So könnten seine Untersuchungen längerfristig tiefere Einsichten darüber liefern, warum zum Beispiel Krebszellen die Stopp-Signale in ihrem Umfeld ignorierten und sich, anders als gesunde Zellen, unkontrolliert teilten.
Er hofft auch, mit seinen Experimenten „die Wirkung von Botenstoffen im Gehirn besser zu verstehen“. Botenstoffe wie das „Glückshormon“ Dopamin oder Neuropeptide wie Endorphine oder Insulin, die im Gehirn von Ameisen offenbar wichtige Rolle spielen wie im Gehirn von Menschen. Diese Botenstoffe sind bei bestimmten Formen von Autismus, Depressionen oder Schizophrenie im Ungleichgewicht.
Noch immer ist Kronauer fasziniert von den winzigen Tieren, die ihm helfen, so viele grundsätzliche Fragen zu klären. Zwar vermisst er bei seiner Arbeit, die sich hauptsächlich im Labor abspielt, die Feldforschung. Es sei einfach fesselnd, „wenn man Ameisen in ihrer natürlichen Umgebung beobachten kann“. Doch es ist spannend zu sehen, wie Experimente im Labor helfen können zu verstehen, wie aus den sozialsten Tiere der Welt zu asozialen Einzelgängern werden.
© WeltN24 / Katja Ridderbusch