25. Juni 2021

Seit dem 25. Mai 2020 quält sich der ehemalige Polizist aus Minneapolis laut seinem Anwalt mit der Frage: Was wäre geschehen, wenn? Eigentlich hätte er an jenem Tag gar nicht gearbeitet. Jetzt muss er für den Mord an George Floyd für 22 1/2 Jahre hinter Gitter. Das Urteil löst auch Empörung aus. 

Von Katja Ridderbusch

270 Monate – 22,5 Jahre. Das ist das Strafmaß für den ehemaligen Polizisten Derek Chauvin, verurteilt des Mordes an George Floyd, das der Vorsitzende Richter Peter Cahill am Freitagnachmittag am Bezirksgericht in Minneapolis verkündete.

Die Forderungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung lagen weit auseinander. Die Anklage hatte auf eine Haftstrafe von 30 Jahren plädiert, Chauvins Anwalt Eric Nelson darauf, die Gefängnisstrafe zur Bewährung auszusetzen. Mit seiner Entscheidung lag Cahill zehn Jahre über der Regelstrafe, die der Bundesstaat Minnesota für einen nicht vorbestraften Angeklagten vorsieht, der wegen Mord zweiten Grades ohne Vorsatz verurteilt wird.

Ein Geschworenengericht hatte Chauvin, 45, am 20. April in allen drei Anklagepunkten für schuldig befunden: neben Mord zweiten Grades auch für Mord dritten Grades sowie Totschlag. Nach geltendem Recht in Minnesota hängt das Strafmaß aber nur vom schwerwiegendsten Anklagepunkt ab.

Die Verkündung des Strafmaßes war der emotionale Abschluss eines emotionalen Prozesses, der die Stadt Minneapolis, die USA und die Welt im Frühjahr mehrere Wochen lang in Atem gehalten hatte – und der von Bürgerrechtsaktivisten als Lackmustest für den Fortschritt bei der Überwindung von systemischem Rassismus gesehen wurde.

Er werde „demnächst mehr Informationen“ liefern, deutet Chauvin an

Spricht er, oder spricht er nicht? Das war eine der anderen Fragen, über die Experten im Vorfeld der Strafmaßverkündung spekuliert hatten. Würde sich Derek Chauvin bei der Verkündung des Strafmaßes persönlich äußern? Es wäre das erste Mal, dass die Welt eine Stellungnahme zur Tat aus dem Mund des Täters hören würde. Beim Prozess hatte Chauvin die Aussage verweigert.

Er sprach, aber nicht wirklich und auch nur kurz. „Ich möchte der Floyd-Familie mein Beileid aussprechen“, sagte Chauvin mit belegter Stimme, als er neben seinem Anwalt ans Podium trat und sich kurz zu den Angehörigen von George Floyd umdrehte. Er könne derzeit kein formales Statement abgeben – Chauvin droht ein weiteres Verfahren vor einem Bundesgericht –, aber er werde „demnächst mehr Informationen“ liefern und hoffe, dass das der Familie „ein wenig Seelenfrieden bringen wird“. Nelson kommentierte Chauvins kryptische Andeutung nicht.

Andere Anwesende sprachen dafür umso mehr. In den USA ist es üblich, dass vor der Verkündung des Strafmaßes die Opfer beziehungsweise deren Angehörigen ebenso wie die Angeklagten und ihre Familien noch einmal zu Wort kommen. Für George Floyd sprach auch seine siebenjährige Tochter Gianna, die per Video zugeschaltet war. Sie sagte, sie vermisse es, mit ihrem Vater zu spielen, und wolle ihm sagen, wo auch immer er sei, dass sie ihn lieb habe.

„Unser Schmerz geht über das hinaus, was Tränen fassen können“, sagte Floyds Neffe Brandon Williams. Floyds Bruder Terrence erinnerte daran, dass er und seine Verwandten zu einer traurigen „Gemeinschaft von Familien gehören“, die Angehörige durch Polizeigewalt verloren hätten. Die Floyd-Familie hoffe auf die Höchststrafe für Chauvin, ergänzte Floyds jüngerer Bruder Philonise – ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung oder Bewährung. „Wir als Familie haben bereits die Höchststrafe bekommen – lebenslänglich.“

„Dies ist nicht der typische Fall“

Nicht nur die Angehörigen von George Floyd mussten immer wieder mit den Tränen kämpfen, auch Matthew Frank, der für die Staatsanwaltschaft sprach, unterbrach sich mehrfach und schluckte schwer. „Dies ist nicht der typische Fall von Mord zweiten Grades ohne Vorsatz“, sagte er. „Das sind neuneinhalb Minuten von Grausamkeit gegenüber einem Mann, der hilflos war, der um sein Leben gefleht hat.“ Neun Minuten und 29 Sekunden – so lange hatte Chauvin am 25. Mai vergangenen Jahres sein Knie in den Nacken von George Floyd gedrückt, auch dann noch, als Floyd schon keine Regung mehr zeigte.

Frank nannte weitere verschärfende Faktoren, die die Forderung der Anklage nach einer 30-jährigen Haftstrafe untermauern sollten: So habe Chauvin seine Machtposition als Polizist ausgenutzt; außerdem seien Kinder Zeugen von Floyds gewaltsamem Tod geworden.

In einigen Momenten wirkte Chauvin wie eingefroren

Chauvin – mit kurz rasierten Haaren und in einem hellgrauen Anzug, der ihm zu groß war – verfolgte die 90-minütige Strafmaßverkündung, wie er auch den gesamten Prozess verfolgt hatte: aufmerksam, weitgehend reglos, für Momente wie eingefroren. Als seine Mutter Carolyn Pawlenty ans Podium trat und den Richter um Gnade für ihren Sohn bat, blickte er starr vor sich hin, nestelte an seiner Anzugjacke. 

Ihr Sohn sei in der Öffentlichkeit als „aggressiv, herzlos und kalt“ dargestellt worden, „als Rassist“, sagte Pawlenty. „Aber das ist nicht so. Mein Sohn ist ein guter Mann.“ Sie richtete sich direkt an Derek Chauvin, bat ihn, gut auf sich achtzugeben. Es war das erste Mal, dass jemand aus dem persönlichen Umfeld von Chauvin sich öffentlich zu Wort meldete.

Chauvins Anwalt – in klarem Kontrast zu den emotional aufgeladenen Stellungnahmen seiner Vorredner – beließ es bei einem kurzen Statement. „Dieser Fall liegt im Epizentrum einer kulturell und politisch tief gespaltenen Gesellschaft“, sagte Nelson, und die Folgen seien für Menschen in Minneapolis und weit darüber hinaus zu spüren. Floyds gewaltsamer Tod hatte in den USA eine Welle von Protesten gegen Rassismus und Polizeibrutalität ausgelöst.

Er appellierte an das Gericht, nicht nur die erschwerenden, sondern auch die mildernden Umstände in die Erhebung des Strafmaßes miteinzubeziehen. „Derek Chauvin war ein solider Polizist. Er ist kein Karrierekrimineller.“ Am Tag der Tat habe er eigentlich freigehabt, sagte Nelson weiter. Aber da sein Revier akute Personalnot hatte, sei er eingesprungen. Seither quäle sich Chauvin immer und immer wieder mit der Frage: „What if, what if, what if“ – Was wäre geschehen, wenn?

Bei Aktivisten löste das Urteil teilweise Wut aus

Richter Cahill erklärte, seine Entscheidung basiere nicht auf Emotionen, sie sei weder beeinflusst von der öffentlichen Meinung, noch wolle sie eine Botschaft senden. Allerdings erkenne er den tiefen Schmerz an, den die beteiligten Familien seit der Tat und während des Prozesses durchlebt hätten, „vor allem die Floyd-Familie“.

Bei den Aktivisten der Black-Lives-Matter Bewegung löste die Entscheidung teils Ernüchterung, teils Wut aus. Mehrere Hundert Menschen hatten sich bei sengender Hitze auf einer Rasenfläche vor dem Hennepin County Government Center in Downtown Minneapolis, dem Sitz des Gerichts, versammelt. Einige skandierten „Bullshit“, schwenkten Fahnen mit dem Konterfei von George Floyd und dem Black-Lives-Matter-Logo, der gereckten Faust. Sie zogen später weiter durch die Innenstadt zum George Floyd Square, Tatort und inoffizielle Gedenkstätte.

Bürgerrechtskämpfer und Prediger Al Sharpton, der zur Verkündung des Strafmaßes nach Minnesota gekommen war, sagte, dies sei die härteste Strafe, die bislang gegen einen Polizisten in Minneapolis verhängt worden sei. „Aber das ist keine Gerechtigkeit. George Floyd bleibt im Grab, auch wenn Chauvin ins Gefängnis geht.“

© WeltN24 / Katja Ridderbusch

Photo: dpa/Pool