25. Januar 2019

Steppdecken, in die gleichmäßig verteilt Pellets oder Ketten aus allergiefreiem Plastik oder Metall eingenäht sind: Das ist der neueste Trend bei Schlafproblemen. Beweise für den Nutzen stehen aus – und doch sind die Erwartungen groß.

Von Katja Ridderbusch

Wer das Internet nach einer Lösung seiner Schlafstörungen befragt, wird schnell auf Gewichtsdecken stoßen. Das „Time Magazine“ kürte „die Decken, die Ängste lösen“, zu einer „der besten Erfindungen des Jahres 2018“. Der Hype um die schweren Decken ist in den USA voll im Gang und dürfte schon bald nach Deutschland schwappen.

Gewichtsdecken sind Quilts – Steppdecken, in die gleichmäßig verteilt Pellets oder Ketten aus allergiefreiem Plastik oder Metall eingenäht sind. Das Gewicht der Decke soll zwölf Prozent des Körpergewichts nicht überschreiten. Schwer genug, um sanften Druck auf den Körper auszuüben, aber nicht so schwer, dass man sich von der Decke erdrückt fühlt und sich nicht mehr im Bett drehen kann.

Viele seiner Patienten hätten von den vermeintlichen Wunderdecken gehört und seien von der Idee begeistert, sagt Dr. Romy Hoque, Neurologe am Schlafzentrum der Emory-Universität in Atlanta. „Leider ist der Enthusiasmus größer als der wissenschaftliche Nachweis, dass die Decken auch wirken.“

Tatsächlich sind wissenschaftliche Belege für den therapeutischen Wert der Gewichtsdecken derzeit eher dünn. Vor allem zwei kleinere Studien haben sich der Rolle von schweren Decken zur Behandlung von Schlafstörungen gewidmet. In einer Studie, erschienen 2014 im Fachjournal „Pediatrics“, war die Wirkung bei 73 autistischen Kindern untersucht worden.

Gewichtsdecken bei Kindern mit ADHS genutzt

In der Autismustherapie werden Gewichtsdecken vor allem bei hyperaktiven Kindern angewandt. Sie sollen helfen, ihre Körperwahrnehmung zu verbessern. Das geschieht – so die Theorie –, indem mit den Decken die Muskeln stimuliert werden, die dann für eine gefühlte Stabilität sorgen. Das Konzept, bekannt als Propriozeption oder Tiefensensibilität, wird von Verhaltenstherapeuten und Sportmedizinern genutzt.

Auch in der Schlafstudie war das Ergebnis eher „gefühlig“: Die Decken führen nicht dazu, dass die Kinder schneller ein- oder tiefer durchschlafen. Doch sie mochten das Gefühl, das ihnen die Decken gaben.

Grundsätzlich scheint die beruhigende Wirkung von Decken bei Babys und Kindern deutlicher in Erscheinung zu treten als bei Erwachsenen. Das ist nicht überraschend, denn: Viele Säuglinge und Kleinkinder schlafen nicht ohne ihre Kuscheldecke. Und auch das Pucken von Babys – das enge Umwickeln des Körpers mit Tüchern – soll für einen ruhigeren Schlaf sorgen. Nur: Auch dieses Verfahren ist unter Fachleuten umstritten.

Eine Studie schwedischer Forscher, veröffentlicht 2015 im „Journal of Sleep Medicine and Disorders“, untersuchte 31 Erwachsene mit chronischen Schlafstörungen. Die Mehrzahl der Teilnehmer berichtete, unter der schweren Decke falle es ihnen leichter, zur Ruhe zu kommen, und sie hätten den Eindruck, etwas besser zu schlafen.

Doch da bei dieser Art der Studie die Testpersonen wissen, ob sie unter einer schweren oder einer normalen Decke liegen, sei es schwierig, die Ergebnisse objektiv zu bewerten, sagt Hoque. „Die Frage ist, ob der Effekt real ist oder ob sich die Teilnehmer wünschen, dass die Decken die erwartete Wirkung haben.“

Wie also wirken die Gewichtsdecken? Hersteller berufen sich auf eine therapeutische Methode namens Deep Pressure Touch Stimulation – zu Deutsch: Tiefendruck – die sich angeblich beruhigend auf das Nervensystem auswirke. Allerdings: „Deep Pressure Stimulation ist ein pseudowissenschaftlicher Begriff“, sagt Schlafmediziner Hoque. Soll heißen: Die Methode gibt es eigentlich gar nicht.

Ferner führen zahlreiche Hersteller Forschungsergebnisse an, denen zufolge Druck auf bestimmte Körperregionen die Ausschüttung von Serotonin und Melatonin befördere – Hormone, die Gelassenheit schaffen und den Schlafrhythmus regulieren – sowie das Stresshormon Cortisol abbaue. „Es ist einfach, solche Zusammenhänge in den Raum zu werfen“, sagt Hoque. Aber der wissenschaftliche Nachweis, dass dieser Mechanismus auch bei Gewichtsdecken wirke, „fehlt ganz einfach noch.“

„Tiefendruck“ soll auf Hormone wirken

Dr. Michael Breus, klinischer Psychologe, Mitglied des US-Verbandes für Schlafmediziner und populärer TV-Doktor, ist grundsätzlich alternativen Heilmethoden aufgeschlossen. „Der positive, beruhigende Effekt von Gewichtsdecken bei der Behandlung autistischer Kinder ist nicht von der Hand zu weisen“, sagt er. „Und bei dieser Patientengruppe funktionieren keine Placebos.“ Doch auch er hält das Argument, dass sogenannter Tiefendruck Schlafhormone ausschütte und Stresshormone blockiere, für irreführend.

Allerdings: Es gibt immer wieder Berichte von Patienten, bei denen die Decken den ersehnten Schlaf bringen. Leslie Kosco zum Beispiel. Die 56-jährige Krankenschwester aus Indianapolis arbeitet auf der Krebsstation in einer Klinik. Sie und ihr Partner haben einen hyperaktiven neunjährigen Sohn. Sie konnte schlecht einschlafen, lag oft stundenlang in der Nacht wach. Im vergangenen Jahr kaufte sie eine Gewichtdecke. Die Decke gebe ihr das Gefühl, dass „mich jemand in den Arm nimmt und beruhigt“, sagte sie dem Medizinportal WebMD. Auch ihr Schlaf habe sich verbessert. Sie wisse nicht, wie die Decke funktioniere, sei aber glücklich, dass sie es tue.

Eine feste, schützende Umarmung, „das ist genau, was Gewichtsdecken simulieren“, sagt Neurologe Hoque. Und das sei eine universell angenehme und beruhigende Erfahrung für jeden und ganz besonders für Menschen, die unter Angststörungen, Depressionen oder bipolaren Störungen leiden. „Psychische Krankheiten und Schlafstörungen greifen oft eng ineinander“, sagt Hoque. Auch hätten die Gewichtsdecken keine schädlichen Nebenwirkungen, setzt er hinzu – „außer dem Preis“.

Eine maßgeschneiderte Decke kostet um die 250 Dollar.

Die wissenschaftliche Beweislage für Gewichtsdecken mag dünn sein. Dafür ist das Businesskonzept umso vielversprechender. Anders als vom „Time Magazine“ beschrieben, sind Gewichtsdecken keine neue Erfindung. Sie kommen seit rund 20 Jahren bei der Therapie von Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen zum Einsatz, vor allem bei Kindern. Hersteller sind in den USA meist kleine Familienunternehmen, wie Sensa Calm in Tennessee oder Salt of the Earth in Nebraska.

Doch Gravity Blankets, Tochter des New Yorker Medien-Start-ups Futurism, leitete 2017 eine Trendwende ein. „Wir haben gesehen, wie viel sich derzeit auf dem Marktplatz von Wellness, Mindfulness und Meditation bewegt“, sagt Firmengründer Mike Grillo, „und wollten auf diesem Feld mitspielen.“ Die Gewichtsdecken seien das perfekte Produkt, denn: „Das Geschäft mit dem Schlaf hat ein riesiges Potenzial.“

Grillo und sein Team von 10 Mitarbeitern machten sich daran, die Gewichtsdecken für einen größeren Markt attraktiv machen. „Dazu müssen sie stylish und trendy sein.“ Gravity startete eine Kampagne auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter und sammelte 4,7 Millionen Dollar an Spenden zur Anschubfinanzierung.

Die Decken lässt das Unternehmen in China fertigen. Bis heute hat Gravity mehr als 120.000 Decken im Wert von insgesamt 26 Millionen Dollar verkauft. Der größte Markt sind die USA und Kanada. In Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien können Kunden die Decken über Amazon bestellen.

Die Skepsis vieler Mediziner lässt Grillo kalt. „Die Gewichtsdecken sind kein Allheilmittel gegen Schlaflosigkeit.“ Wer kurz vor dem Einschlafen noch Kaffee trinke und auf das garstige blaue Licht seines Smartphone-Displays starre, dem helfe auch keine Decke. „Unsere Decken sind Teil eines ganzheitlichen Ansatzes.“

Grillo hofft, dass die US-Pharmaaufssicht FDA Gewichtsdecken irgendwann einmal als medizinisches Gerät anerkennt. Dann würden Krankenversicherungen die Kosten übernehmen. Doch der Zulassungsprozess ist langwierig und teuer und erfordert zahlreiche unabhängige klinische Studien.

Wenn das so weit sei und „belastbare positive Forschungsergebnisse vorliegen“, sagt Neurologe Romy Hoque, werde er seinen schlaflosen Patienten gerne eine Gewichtsdecke verschreiben.

© WeltN24 / Katja Ridderbusch